Graveltour auf dem R1 durch Sachsen-Anhalt

Auf gut 275 km Länge führt der Europaradweg R1 durch Sachsen-Anhalt. Die sind im besten Wille Gravelland, auf dem es von barocken Schlössern, über mystische Wesen bis zur Baggerstadt FERROPOLIS eine Menge zu entdecken gibt.

Text: Bike&Travel, Conrad Engelhardt

Hexentänze und Teufelsmauer

Mitten im schweigenden Harzwald steht ein schwarz-rot-goldener Pfosten und erinnert daran, dass hier, am Bachlauf der Ecker, einst die innerdeutsche Grenze das Land teilte. Im nahen Stapelburg sieht man noch Reste des alten Maschenbetonwegs und ein Denkmal, aber wir haben viel vor und wollen weiter: Auf gut 275 Kilometern Länge führt der Europaradweg R1 durch Sachsen-Anhalt.
Schon auf den ersten Kilometern entlang der nördlichen Harzhänge wird klar: Der R1 ist hier Gravelland. Mal erdige, mal geschotterte Waldwege mit ordentlichen Steigungen sind dabei zu überwinden. Erster Stopp ist im stillen Kloster Drübeck. Beschattet vom Blätterdach einer mächtigen Buche im Hof der ehemaligen Benediktinerinnen-Abtei lässt es sich ruhen, während dazu das Brünnlein plätschert. Später rollen wir auf ordentlichem Asphalt in Wernigerode ein. Dort zieht uns weniger die pittoreske Fachwerk-Altstadt mit ihrem bunten Rathaus an, als der Bahnhof der Harzquerbahn.
Seit 1899 schnaufen die Dampfzüge von hier auf Schmalspurgleisen bis zum 1142 Meter hohen Brocken hinauf. Von einer erhöhten Aussichtsplattform hat man die abfahrenden Züge gut im Blick, ebenso den Betrieb auf der Drehscheibe des Lokschuppens, das Beladen der Lokomotiven mit Kohle und das Befüllen mit Wasser.
Hinter Wernigerode wird der R1 wieder sportlicher. Anstiege und Abfahrten auf Forstwegen wechseln sich ab, ehe man durchs nördliche Tor ins ehemalige Zisterzienserkloster Michaelstein einfährt. Hoch am Hang umrunden wir anschließend Blankenburg. Dort beginnt die Teufelsmauer, ein schroffes Felsband, das sich über 25 Kilometer bis zu den »Gegensteinen« bei Ballenstedt hinzieht. Der Legende nach hat sie der Teufel in einer Nacht aufgetürmt – und sie am nächsten Morgen aus Ärger teilweise wieder eingeworfen.
In Thale wird es noch mystischer: Eine Schwebebahn führt übers felsig-wilde Bodetal hoch zum Hexentanzplatz. Der war einst eine germanischer Kultstätte, an der heidnische Götter verehrt wurden. Die Mystik hat sich bis heute gehalten: In der Nacht zum 1. Mai, der Walpurgisnacht, geben sich moderne Hexen und Teufel ihrem unheimlichen Treiben hin und tanzen zur Rockmusik ums Feuer. Unten im Talkessel riecht es stattdessen verlockend nach Pommes und das Hüttenmuseum erzählt von der Entwicklung der Blechhütte von 1686 bis zum industriellen Eisenhüttenwerk des 20. Jahrhunderts.

Kurort Bad Suderode

Man kann es nicht übersehen: Auf dem R1 ist ordentlich was los! Bis zum Mittag sind uns schon mehrere Radgruppen begegnet, meist mit Tourenrädern und üppigen Packtaschen vorn und hinten. Wir haben unser Gepäck an den Gravelbikes dagegen so schmal wie möglich gehalten: kaum mehr als Zahnbürste, Geld & Wechselwäsche. Das passt bequem ins wasserdichte Front Bag am Lenker. Mittagspause dann in der Bückeburg am Rand des Harzstädtchens Bad Suderode. Die Tische stehen um den Fischteich, dessen Fang frisch auf dem Teller landet. Beim Essen schnattern die Enten. Mit Blick auf die romanische Stiftskirche St. Cyriakus aus dem 10. Jahrhundert fädeln wir am Gernröder Bahnhof auf die 2004 stillgelegte Bahntrasse ein. Sie ist heute mit Beton überbaut, so rollt man fast von allein entlang der Nordharzkante Richtung Ballenstedt, passiert dabei Rieder und die verwunschen schöne Roseburg, während am Horizont der Burgberg der Welterbestadt Quedlinburg mit seiner Stiftskirche grüßt.

Alter Grenzpfeiler bei Stapelburg

Alter Grenzpfeiler bei Stapelburg

Harzer Schmalspurbahn in Wernigerode

Harzer Schmalspurbahn in Wernigerode

Alter Eisenbahndamm in Gernrode

Alter Eisenbahndamm bei Gernrode

Durchs Salzland

Über Schloss Meisdorf und vorbei an der auf hohem Hügel thronenden Konradsburg führt die Strecke nun durch die Ebene nordwärts.
Wir umrunden den Concordiasee, ein 300 Hektar großes, in den 1990er Jahren geflutetes Restloch der einstigen Braunkohlegrube »Concordia«. Heute wird hier Wassersport betrieben, vom Aussichtshügel am Nordufer schaut man direkt auf die Marina. Hinter dem Concordiasee fällt die zumeist über sandige Feldwege führende Piste langsam ab in die Bodeniederung. In fast allen Orten entlang des Flusses begann man Mitte des 19. Jahrhunderts mit dem Braunkohlebergbau. Die ausgekohlten Flöze sackten später ein, an der Oberfläche entstanden so zahlreiche Restlöcher mit Seen.
Auch Staßfurt ist vom Bergbau geprägt, allerdings stand hier die Salzgewinnung im Vordergrund. Anfangs ging es um das Steinsalz (das klassische Speisesalz). Die dabei mitgeförderten bitteren Kaliumsalze kippte man zunächst auf Halden – Abfall. Bis der Chemiker Adolph Frank bei einem Rundgang die dort üppig sprießenden Pflanzenwelt bemerkte. So entstand die Idee, diese Kalisalze als Dünger für die Landwirtschaft zu verwenden. Ein Geniestreich, denn Staßfurt wurde so zur weltweiten Wiege der Kali-Industrie. Die technischen Zeitzeugen des 150- jährigen Salzbergbaus sind heute im Bergbaumuseum in der Staßfurter Altstadt zusammengetragen.
Auch das mit seiner Strandterrasse und den Umkleidekabinen mondän wirkende Solebad im Stadtteil Leopoldshall ist ein Erbe des Salzbergbaus. Um 1900 lief das durch einen Bergsturz entstanden Loch voll und mit einem Hang zum Pragmatismus eröffnete der Bürgermeister 1929 das erste und einzige Strandsolbad Mitteleuropas. Dessen Salzgehalt liegt bei konstant 2,1 Prozent – mehr als in der Ostsee (1 bis 1,5 Prozent).

Geschichte erradeln

Entlang von Bode und Saale, über Bernburg und Köthen führt der Weg ins Dörfchen Reppichau. Von hier stammt Ritter Eike von Repgow, ein Landedelmann, der Anfang des 13. Jahrhunderts das gewohnheitsmäßige Landrecht (z.B. »Wer zuerst in die Mühle kommt, mahlt zuerst«) verschriftlichte. So gilt sein »Sachsenspiegel« heute als erstes mittelalterliches Rechtsbuch. Fast 700 Jahre lang wurde aus ihm anschließend Recht gesprochen. Auf den Spuren Repgows ist der gesamte Ort heute ein äußerst lebendiges Kunstprojekt, das die Figuren der Bilderhandschrift des Sachsenspiegels zum Leben erweckt hat. Überall im Dorf lassen sich Plastiken, Wandmalereien oder Heerschilde finden, sie bedecken die Giebel von Scheunen oder umstehen als fünf Meter hohe Figuren den Dorfteich. Das muss man gesehen haben!
Mit einem kleinen Schlenker zum barocken Schloss Mosigkau führt der R1 geradewegs nach Dessau hinein und unmittelbar am Junkersmuseum vorbei. Das Museum ist ein »Muss« für Technikinteressierte, schließlich setzten die Erfindungen von Hugo Junkers Anfang des 20. Jahrhunderts neue Maßstäbe in Thermotechnik und Flugzeugbau. Von ihm stammte u.a. das erste Ganzmetallflugzeug und ein Windkanal für aerodynamische Analysen. Prachtstück der musealen Sammlung ist eine Ju 52. Die dreimotorige Maschine wurde 1932 zum Standard-Flugzeugtyp der Deutschen Lufthansa und so prägte die »Tante Ju« die beginnende zivile Luftfahrt.
Dessau ist aber vor allem Bauhaus-Stadt. Zwischen 1919 und 1933 revolutionierte das Bauhaus als Hochschule für Gestaltung weltweit das künstlerische und architektonische Denken. Und so gehört es heute zum UNESCO Weltkulturerbe. Architektonische Zeugnisse dieses neuen Denkens sind neben dem Bauhaus selbst vor allem die Meisterhäuser, 2019 wurde dazu ein avantgardistisches Bauhaus-Museum eröffnet.

In der alten Residenzstadt Bernburg (Saale)

In der alten Residenzstadt Bernburg (Saale)

Vor dem Schloss Mosigkau

Vor dem Schloss Mosigkau im Gartenreich Dessau-Wörlitz

Barock und Baggerstadt

Stadtauswärts rollt man auf einer kühn geschwungenen Radbrücke über die Mulde hinweg und direkt in den englischen Landschaftspark von Schloss Luisium hinein. Der gehört zum verwunschen schönen »Gartenreich Dessau-Wörlitz«, das ebenfalls zum UNESCO Weltkulturerbe zählt.
Auf asphaltierter Piste gleitet man später regelrecht durch den »Waldpark« im Vockeroder Elbbogen. Dort ließ Fürst Franz von Anhalt ab 1777 eine »geordnete Wildnis« anlegen, zu der zahlreiche Kleinarchitekturen und Skulpturen gehören. Künstlerisch gestaltete Toranlagen markieren die Eingänge zu der Anlage. Sein Herzstück ist die Solitude, ein Haus in Form eines römischen Tempels an der Hangkante zu den Elbwiesen.
Unter der Autobahnbrücke der A9, die in weitem Spann die Elbniederung überquert, rollen wir auf der Deichkrone Vockerode entgegen. Der Ort wird von einem gigantischen Kraftwerksbau überragt: das 1938 in Betrieb genommene Großkraftwerk – der »gestrandete Dampfer an der Elbe« – war bis 1994 in Betrieb, 15.000 Tonnen Braunkohle wurden hier täglich verstromt. Das 270 Meter lange und 40 Meter hohe Technische Denkmal beeindruckt bis heute durch die monumental-ästhetische Industriearchitektur, bei der Kesselhaus und Turbinenhalle abgestuft nebeneinander angeordnet sind. Die einst alles überragenden, vier 140 Meter hohen Schornsteine dominierten bis 2001 den Horizont, ehe sie in einer spektakulären Aktion gesprengt wurden.
Hinter Vockerode wird die waldige Landschaft wieder lieblicher.
Der Weg führt an renaturierten Wasserläufen entlang, deren üppig wachsendes Grün fasziniert. Urplötzlich taucht dann über der Waldkante das Dach des Pagodenturms von Oranienbaum auf. Henriette Catharina (1637–1708), Gemahlin des Fürsten von Anhalt-Dessau, ließ sich die großzügige Schlossanlage ab 1683 errichten. Ihr Urenkel Fürst Franz hatte dann offenbar einen Hang zur asiatischen Kultur. Um 1780 gestaltete er Räume des Schlosses im chinesischen Stil und den barocken Park formte er zum Englisch-chinesischen Garten, der heute als einzig erhaltener dieser Art in Deutschland gilt.
In der idyllischen Insellandschaft mit ihren Wasserläufen, Inseln, Bogenbrücken und Findlingen setzen das Chinesische Haus und die fünfgeschossige Pagode die architektonischen Akzente. Wer vom Gartenreich nicht genug bekommen kann, dem sei ein Abstecher in den nahen Wörlitzer Park empfohlen – hier hat Fürst Leopold III. den künstlichen Nachbau des Vesuvs hinterlassen.

 

Baggerstadt FERROPOLIS

Baggerstadt FERROPOLIS

Auf der Elbbrücke in Lutherstadt Wittenberg

Auf der Elbbrücke in Lutherstadt Wittenberg

So viel zu entdecken

Südlich Oranienbaums beginnt ein ehemaliges Braunkohlerevier. Bis 1991 wurde im Tagebau Golpa-Nord gebaggert, ab 2000 flutete man die Grube. Auf einer dabei entstandenen Halbinsel im neuen Gremminer See sind fünf der monumentalen Tagebaugroßgeräte zur »Stadt aus Eisen« zusammengefügt worden. Heute ist dieses »Ferropolis« Museum, Industriedenkmal, Stahlskulptur, Veranstaltungsareal und Themenpark gleichermaßen. Über allem thronen die riesigen Maschinen, die aussehen wie Dinosaurier eines vergangenen Zeitalters und epische Namen tragen wie »Mad Max«, »Mosquito« oder »Medusa«. Der schwerste und gewaltigste unter den fünf Baggern aber ist der 125 Meter lange und 30 Meter hohe Absetzer »Gemini«, dessen heute begehbarer, 60 Meter langer Ausleger eine Aussichtsplattform für Besucher trägt.
Von Ferropolis über Gräfenhainichen führt die dahinter nun solide asphaltierte Piste längs der Bahnlinie München-Berlin. Beim zumeist herrschenden West-Südwest ist das eine kleine Rennstrecke, nur die vorbeifliegenden ICE sind schneller.
Am Bergwitzer See kann man nochmal gut eine Badepause einlegen, ehe es weiter Richtung Wittenberg geht. Kaum ist man dort auf dem entlang der Bundesstraße geführten Radweg über die Elbe gerollt, steht man auf dem Marktplatz schon Angesicht zu Angesicht mit Martin Luther. Über das sauber gelegte Kopfsteinpflaster der hübschen Altstadt mit ihren vielen Gaststätten und Cafés rollen wir noch bis zur Schlosskirche an deren Tür Luther 1517 seine Thesen zur Reformierung der Kirche angeschlagen hat – und wir fühlen uns von großer Geschichte umweht. Zwanzig Kilometer sind es danach noch bis zur Landesgrenze Brandenburg, aber eine Übernachtung in der Lutherstadt ist dem vorzuziehen.